Marta Doehler-Behzadi
In: Wüstenrot Stiftung (Hrsg.) (2021): Bedingt planbar – Stadtentwicklung und Städtebau in Deutschland und Europa. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung.
„The countryside is an amalgamation of tendencies that are outside our overview and outside our awareness. Our current obsession with only the city is highly irresponsible because you cannot understand the city without understanding the countryside.“ (Koolhaas 2014)
Das Millenium der Städte
Mit Anbruch des neuen Jahrtausends wurde gemeldet, dass weltweit mehr Menschen in Städten lebten als auf dem Land, 2030 werden 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten erwartet. Täuscht der Eindruck oder klang das den Stadtplanern und Stadtplanerinnen wie eine Bestätigung von etwas, das sie schon immer wussten? Die Stadt, Ort von Fortschritt, Vielfalt und Chancen hatte sich als Lebensprinzip weltweit durchgesetzt! Ausgeblendet werden in dieser Kurzfassung, dass ein großer Teil der Landbevölkerung nicht aus freien Stücken in die Stadt geht. Sie kommen aus miserablen Lebensumständen, abgrundtiefer Armut und Sklaverei, fliehen vor Naturkatastrophen und der Erschöpfung ihrer Produktions- und Lebensgrundlagen. Und sie ziehen in die elenden Verhältnisse der großen Städte und Megacities, deren explosionsartiges Wachstum infrastrukturell und ökologisch, sozial und politisch kaum beherrscht werden kann. Ob eine anzustrebende Perspektive der Menschheit in diesen Agglomerationen liegt, kann man durchaus bezweifeln, ob Favelas, Slums und Flüchtlingslager überhaupt noch als ‚Stadt’ bezeichnet werden können, ist ebenso fraglich. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen schlägt angesichts weltweiter Wanderungen unter der Überschrift „Der Umzug der Menschheit“ eine „umfassende polyzentrische Perspektive“ vor, bei der „die Fläche wieder ins urbane Spiel zurückkehrt“ (WBGU, 2016, S. 5).
Dieses Stadtverständnis geteilter Verantwortung ist auch für den Maßstab Deutschlands angebracht. Und dieses Stadtverständnis braucht ein neues Verhältnis zum Land. Diese These bezieht sich nicht allein auf das Netzwerk der Städte und dessen Potenziale für Kooperation und Arbeitsteilung, sondern auch auf ein neues Verhältnis von Siedlung zu Freiflächen, von Individuum zu Natur sowie von Gesellschaft zu ihren Sourcen und Ressourcen. Auf einen neuen gesellschaftlichen Metabolismus.
StadtLand und Rurbanismus
In Deutschland gibt es eine kleinteilige elaborierte Siedlungsstruktur, bei der die Unterschiede zwischen städtischen Zentren und ländlichem Raum nicht eindeutig auszumachen sind. 75 % der Bevölkerung wohnten in städtischen Zentren, während die anderen 75 % in ländlichen Räumen lebten, beschrieb ein früherer Abteilungsleiter des BBSR diese Charakteristik mit Augenzwinkern. Folgt man der wissenschaftlichen Systematik des Instituts zur Einteilung in die kreisfreien Großstädte und städtischen Kreise einerseits und die dünn besiedelten ländlichen Kreise sowie in solche mit Verdichtungsansätzen andererseits, so repräsentiert Thüringen durch rund 90% seiner Fläche die ländliche Raumkategorie. Dabei ist dieser Raum nicht leer. Thüringen ist vielmehr geprägt von einer dichten und kleinteiligen Siedlungsstruktur. Die 2,15 Millionen Einwohner Thüringens leben in knapp 850 Gemeinden mit durchschnittlich etwa 2.500 Einwohnern.
„Die Hälfte von Europa ist so wie Thüringen.“ (Lütke Daldrup 2014, 10) Die Internationale Bauausstellung (IBA) Thüringen hat StadtLand zu ihrem Thema gemacht und beschreibt damit eine weit verbreitete Raumkategorie, den von größeren und kleineren Siedlungen durchsetzten ländlichen Raum, der von vielfältigen Transformationsprozessen gekennzeichnet ist. Der demografische Wandel ist nur eine Dimension davon. Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung und vielfältige sozio-kulturelle Veränderungsprozesse verändern das Land ebenso, wenn nicht sogar stärker als die Stadt.
Das Kunstwort StadtLand der IBA Thüringen steht für die unscharf gewordenen Kategorien von Stadt und Land. Das Verschwinden der klassischen industriellen und bäuerlichen Arbeit und mit ihnen der traditionellen proletarischen und bäuerlichen Milieus, ihrer gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen, Riten und Werte und die neuen Arbeitswelten und Kommunikationsstrukturen lassen den Alltag in Stadt und Land ähnlich werden. Die Menschen, die heute auf dem Land leben, haben sich längst befreit aus den Bindungen der Tierpflege und dem jahreszeitlichen Rhythmus der Ackerwirtschaft. Heute lebt man auf dem Land fast wie in der Stadt, pendelt zur Schule und Arbeit und fährt die gleichen Autos. Man kauft in denselben Supermärkten ein und der Interneteinkauf wird über Nacht nach Hause geliefert. Ob man aus der Stadt oder vom Land kommt, ist den Leuten nicht mehr anzusehen. In der Studie ‚Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften’ der Wüstenrot Stiftung wird beschrieben, dass Jugendliche unabhängig von ihrer jeweiligen städtischen oder ländlichen Lebenssituation einander auf Anhieb verstanden. Die Autoren vom Studio Urbane Landschaften zitieren die 14jährige Frida aus Hamburg mit ihrer Einschätzung über die Altersgefährten auf dem Land: „Sie sind wie Stadtkinder, nur nicht in der Stadt.“ (Studio urbane Landschaften, 2015, S.123).
Wir sind es als professionelle Stadtplaner und Stadtplanerinnen gewohnt, Veränderungen in den Städten genauestens zu verfolgen, nicht jedoch fürs Land. Der gewaltige Wandel, der dort in nur wenigen Generationen stattfand, bleibt bis heute nahezu unkommentiert. Adrian Naef erhellt die Veränderungen in seinem Schweizer Heimatdorf mit einem kurzen Satz: „Vom winterlichen unter Null im Kinderschlafzimmer bis zur europäischen Zentrale von Microsoft vergingen in Badersdorf keine dreißig Jahre...“ (Naef 2011, 126). In der Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Ausgabe sind die IBA Thüringen und die Redaktion der ARCH+ verschiedenen Dimensionen des Rurbanismus nachgegangen. Das Thema wurde theoretisch durch die Thesen von Henri Lefebvre zur Aufhebung des Stadt-Land-Gegensatzes eingeführt. Der französische Soziologe und Philosoph hat in den 1970er Jahren die unaufhaltsame Ausbreitung urbaner Gebiete als vollständige Urbanisierung der gesamten Gesellschaft erkannt. André Corboz wiederum beschreibt die Schweiz in Gänze als eineMetropole. Er verweist darauf, dass bereits Jean-Jaques Rousseau 1763 die Schweiz als eine große Stadt sah. In dieser Perspektive sind Stadt und Land kein Gegensatz mehr, vielmehr wird das gesamte Territorium zur Stadt erklärt, wenngleich diese zwischen ihren bebauten Vierteln viele Lücken hat, „...oder anders gesagt, sie enthält viele Flächen, die mit einer Stadt im herkömmlichen Sinn nichts zu tun haben.“ (Corboz 1992, 155). Diese Lücken bestimmen den Charakter von Stadt in zunehmendem Maß mit.
Interessant ist, dass sich heute immer mehr Menschen freiwillig einer gelebten Verantwortung für das Klima, für Ressourcen, unsere Ernährungsgrundlagen, Energiequellen, den Wasserhaushalt und anderes mehr unterwerfen. Sie verfolgen Praktiken, die nicht selten aus einem landschaftlichen, landwirtschaftlichen und gärtnerischen Kontext kommen wie zum Beispiel das urban gardening, water farming oder die ‚Essbare Stadt’. Während viele ‚Natur’ außerhalb der Städte suchen, findet man biologische Vielfalt vor der Haustür, in den Gärten und auf den Brachflächen der Städte. Das mag man als exotische Hobbys abtun oder als sozial-kulturell relevante Zwischennutzungen einordnen, generell gewinnen aber grüne Infrastrukturen oder regionale Bindungen von Produzenten und Konsumenten stetig an Bedeutung. Diese neuartigen Arrangements sind nicht zu verwechseln mit dem Wiederaufleben eines historischen Zustands subsistenter Lebensgrundlagen im Stadt-Land-Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit und lokalen Beschränktheit, sondern werden als offenes Konzept gelebt. Sie schließen den Freiheitsgrad überregionaler Vernetzung und das Wissen um globale Verantwortung ein.
Was die Menschen unter Stadt und Land verstehen, ist einer ständigen Fortschreibung im Alltag unterworfen und es könnte sein, dass die professionellen Erklärungsmodelle dieser Dynamik hinterherhinken. Die Begriffe ‚Stadt’ und ‚Land’ verleiten dazu, historische Eindeutigkeiten in die Gegenwart zu holen, die es so nicht mehr gibt, in jedem Fall richten sie das Augenmerk nicht auf die Transformationserscheinungen und Transzendenzen, die sowohl Land als auch Stadt ergreifen. Ein bezeichnendes Schlaglicht wirft die Dortmunder Soziologin Susanne Frank, indem sie die Familienorientierung in aktuellen Kommunalpolitiken als innere Suburbanisierungsprozesse wahrnimmt, „die charakteristische Eigenschaften suburbanen Wohnens in die Städte hereinholen“ (Frank 2014, 365). Im Ergebnis dessen entstehen sozial relativ homogene Nachbarschaften – wie in Suburbia – mit durchsetzungsstarken Akteuren und deren Forderungen an Sicherheit, soziale Kontrolle und Lebensqualität im Wohnumfeld. Frank erkennt nicht nur die Town Houses im selbstgenutzten Eigentum sondern auch Baugruppenprojekte im Bestand als Treiber dieser Entwicklung. Auch die Werbeprospekte der Makler versprechen an anderer Stelle volltönend für ihre gut betuchten Zielgruppen ‚das Dorf in der Stadt’.
Vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße, war schon immer ein Wohnideal. Die Geschichte des Städtebaus steckt voller stadtlandschaftlicher Reformideen. Ob das in den letzten Jahrzehnten in unserer Profession favorisierte Modell der Europäischen Stadt auch die hybriden Formen – von der Gartenstadt bis zur Großwohnsiedlung – ausreichend berücksichtigt, wäre einer Überprüfung wert. Klar ist in jedem Fall, dass professionelle Erklärungen sowie politische Handlungskonzepte für den ländlichen Raum fehlen.
Der ländliche Raum als Enfant terrible
Im ländlichen Raum steht derzeit nichts weniger als der demokratische Zusammenhalt unserer Gesellschaft auf dem Prüfstand. Die Parteien entdecken die ‚Heimat’, sie reden viel vom ‚Zuhören’ und setzen auf die Zivilgesellschaft, wirken aber alles in allem ähnlich hilflos wie die Stadtplanerinnen und -planer, die ihre alten Konzepte der zentralen Orte in Varianten fortschreiben. In seinem Editorial zur ARCH+ Ausgabe schreibt der Redakteur Anh-Lhin Ngo: „Wir erleben eine Verlagerung des Konflikts, bei der der hierarchische Blick von der Stadt auf das Land umgekehrt wird. Zugleich wird die romantische Verklärung des ländlichen Raumes als Ort der Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, als Opfer der Industrialisierung und Verstädterung in Frage gestellt. Das Land wird zu einem ambivalenten Akteur, in mancherlei Hinsicht zum Täter und Vorreiter“ (Anh-Linh Ngo 2017, 3).
Dass es politischen Handlungsbedarf gibt, haben nicht zuletzt die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen gezeigt. Das Abschneiden der AfD mit 23,5% in Brandenburg und 27,5% in Sachsen machst diese Partei jeweils zur zweitstärksten Kraft und erschüttert die Parteienlandschaft. Damit reiht sich nun auch Deutschland in den weltweiten Trend hin zum rechtsgerichteten Populismus ein. Die schlichte Aussagen und alternativen Fakten der Trumps, Le Pens und Orbans werden umso aufmerksamer gehört, je mehr sich die Menschen mit unübersehbaren Veränderungen, Herausforderungen und Zumutungen konfrontiert sehen. Zu bemerken ist darüber hinaus eine Art Dammbruch in der öffentlichen Artikulation – bis dato Ungesagtes, Unsagbares wird nun herausgerufen, ja herausgebrüllt. Der Raum der öffentlichen Meinungsbildung als demokratisches Refugium verändert sich erkennbar, nicht nur im Schutz des anonymen Netzes, auch in der persönlichen Begegnung. Häufig werden diese Entwicklungen dem von Schrumpfung betroffenen ländlichen Räumen zugeschrieben. Das DIW ist vorsichtig und macht keine eindeutigen Korrelationen von Wirtschafts- und Sozialdaten zu den Wahlergebnissen der AfD aus, kommt aber dennoch zum Schluss, „dass die demografische Entwicklung in den weniger verdichteten Räumen auch ein Gefühl der Perspektivlosigkeit mit sich bringt, wodurch Vertrauen in etablierte Parteien zu erodieren droht“ (Franz et al. 2018, 136). Und tatsächlich kommt hier einiges zusammen. Im Ergebnis des demografischen Wandels und der von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft eingeschlagenen Pfade räumlicher Konzentration schreibt der ländlich periphere Raum an vielen Stellen eine andauernde Verlustgeschichte, die in etwa so klingt: ‚Zuerst zogen die jungen Leute weg, dann wurde der Bahnanschluss eingestellt, es gibt keinen Pfarrer, keinen Lehrer, keinen Frisör oder Wirt, keinen Bürgermeister mehr vor Ort. Und der Geldautomat wird demnächst auch abmontiert!’ Wir brauchen also ein neues Narrativ für die Provinz, das Überzeugungskraft und gesellschaftliche Bindekräfte entfalten kann.
Dennoch: Es bleibt dabei, dass nahezu alle räumlich relevanten Veränderungen wie demografische Wanderungen, unternehmerische Standortentscheidungen und die Optimierung öffentlicher und privater Dienstleistungen in die Agglomeration führen. Gerade die jungen Leute mit Berufsschul- und Studienabschluss zieht es dorthin, wo etwas los ist. Die immer singulärer lebende Gesellschaft braucht die Stadt, ihre Dienstleistungen, die bunte Konsumwelt und anregende Milieus der Begegnung. Da können Dorf und Kleinstadt nicht mithalten. Volkswirtschaftlich, kulturell und politisch ist aber der hohe Wachstumsdruck in den Zentren ebenso anstrengend wie das starke Schrumpfen in der Peripherie verlustreich ist. Beides birgt Risiken für den sozialen Frieden und den demokratischen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Zahlreiche Beweggründe wie soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit, die optimale Auslastung von Ressourcen, Beständen und Infrastrukturen sollten die gesellschaftlichen Akteure jedoch anhalten, stärker auf Balance und Ausgleich zu setzen. Einer unsystematischen Empirie folgend brauchen gerade die kleinen Städte im ländlichen Raum ein Mindestrepertoire für einen freundlichen Lebensalltag, das mit dem Erhalt der Einrichtungen der Daseinsvorsorge nicht hinreichend beschrieben ist. Insbesondere die Kleinstadt muss sich neu erfinden, dies vor dem Hintergrund, dass ihre Markt- und Handelsfunktionen massiv wegbrechen, was im Stadtbild offensichtlich wird. Im ländlichen Raum wird selbstverständlich ein schnelles Internet gebraucht, wenn möglich ein Bahnanschluss. Infrastrukturen für den öffentlichen Verkehr sind der öffentliche Raum in der Peripherie, er braucht sorgfältige Gestaltung. Aber schauen wir die Tausenden leerstehender, verrammelter Bahnhöfe landauf landab an, werfen wir einen Blick darauf, wie banal Haltestellen von Bus und Bahn gestaltet werden! Zentral, weil verbunden mit frühen Wohnortentscheidungen, sind die Einrichtungen der beruflichen Ausbildung. Deren immer weitere Zentralisierung ist demografischer Sprengstoff für den ländlichen Raum und wird schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für einen dezentral verorteten gewerblichen Mittelstand haben. Bezeichnender Weise ist ein Spiegelartikel über die Strategien Thüringer Unternehmer zur Gewinnung von Fachkräften mit dem Titel „Thüringer Tricks“ überschrieben. Man muss sich schon etwas einfallen lassen, um auf lange Sicht in peripheren Lagen genügend gute Arbeitskräfte zu finden und zu binden. Absolut notwendig ist die verlässliche, sicht- und hörbare, kontinuierliche Vorortpräsenz demokratischer Institutionen und ihrer Vertreter. Noch so gute Förderprojekte für die Zivilgesellschaft werden das nicht kompensieren können.
Landlust, Raumpioniere und die Landwirtschaft
„Die Menschen wandern aus den Dörfern in die Städte. Dort träumen sie vom Landleben.“(Schönfelder 2018, 49) Es gibt Trends, die der anhaltenden Zentralisierung entgegenstehen: die zunehmende Mobilität der Menschen, die Flexibilisierung der Arbeitswelten, multilokale Lebensweisen und anderes mehr. Auch wenn diese per Saldo nicht die Wanderungen in die Städte kompensieren, sollten wir sie stärker zur Kenntnis nehmen. Sie gestatten ein Leben im Sowohl-als-Auch und können die Vorzüge unterschiedlicher Alltagsräume miteinander verbinden. Das bereichert das Lebensglück vieler Menschen und die von Einwohnerrückgang und Leerstand gekennzeichneten Räume, Siedlungen und Gebäude gleich mit. Insofern spricht nichts gegen die viel belächelte Landlust oder deren coolere Version, die Raumpioniere. Freilich haben deren Bildspeicher von gesunden Umweltbedingungen, dem selbstbestimmten Leben in der Natur, von ländlicher, wenn nicht gar bäuerlicher Idylle nicht viel mit der Realität heutiger Land- und Forstwirtschaft zu tun. In einer öffentlichen Diskussionsrunde um die Zukunft des ländlichen Raumes in Thüringen rief eine Frau aufgebracht, sie würde ja gern aufs Dorf ziehen, aber bei dieser Art von landwirtschaftlicher Produktion sei das völlig ausgeschlossen.
Diskussionen um das Tierwohl und der eine oder andere Lebensmittelskandal haben in den letzten Jahren immer nur wenige erreicht, sind kurz aufgeschäumt und schnell wieder verebbt. Aber an der Art und Weise unserer hochindustrialisierten Landwirtschaft sind grundsätzliche Zweifel anzumelden, da sie offenkundig nicht mehr auf den Prinzipien der Nachhaltigkeit beruhen. Supersize, Hightech und unverständliche Direktsubventionen haben aus der Landwirtschaft mittlerweile einen hocheffizienten Industriezweig gemacht, der von der Gesellschaft nicht mehr verstanden wird. Aber die alarmierenden Nachrichten über das Insektensterben, die uns 2017 auf verschiedenen Kanälen erreichten, haben womöglich dazu geführt, dass die Fragen, wie wir uns ernähren und versorgen, nun nicht mehr von der öffentlichen Agenda verschwinden werden. Die weltweit anwachsende Bewegung zum Klimaschutz weist ebenfalls in diese Richtung. Hauptakteure für den anstehenden Wandel werden die Landwirte selbst sein müssen – denn andere treten nicht an ihre Stelle. Kenneth Anders und Lars Fischer beklagen das Dilemma eines fehlenden öffentlichen und fairen Diskurses für eine erneuerte Agrarpolitik, da die Landwirte wahlweise als ‚Täter’ oder als ‚Opfer’ in der heutigen Medienlandschaft dargestellt würden. So würden „Kooperationen verhindert, Feindbilder geschürt und einfache Antworten auf sehr komplexe Verhältnisse gefördert“ (Anders, Fischer 2017, 90). Wir stehen also ganz am Anfang einer notwendigen gesellschaftlichen Debatte. Betrachten wir als Stadtplaner und -planerinnen das Land, dürfen wir unseren Blick nicht auf das Dorf begrenzen und dieses als Siedlungs-, Sozial- und Kulturraum wahrnehmen, sondern müssen den Horizont erweitern – auf das Feld, in den Wald, in den Stall und auf den Acker. Gäbe es sonst keine gesellschaftliche Notwendigkeit für das Leben im ländlichen Raum, etwa weil man ja schließlich alle wichtigen gesellschaftlichen Funktionen in den städtischen Zentren so wunderbar effizient und dabei so unterhaltsam erledigen könnte – gerade hier liegt seine gesellschaftliche Aufgabe: Vorposten in die Fläche zu sein und zu bleiben. Dazu noch einmal Anders und Fischer: „Das Bild, das im Demografiediskurs vom Land gemalt wird, ist das von todgeweihten Gegenden. Unterdessen gedeihen urbane Autarkiephantasien. (...) Mit der symbolischen und materiellen Entleerung des Landes sind bestimmte strategische ‚Vorteile’ für dessen Verwertung verbunden. Der Verbrauch an Flächen, Boden und Kultur z. B. durch die Energiewirtschaft tut weniger weh, wenn es außerhalb des eigenen Lebenskontextes erfolgt. Je enger wir also die Grenzen dieses Kontextes ziehen, umso weniger Rücksichten müssen wir üben. Da nützt auch ein grünes Bewusstsein nichts: Was nicht zum Eigenen gehört, wird von uns verbraucht, nicht bewirtschaftet. Die Konkurrenz der Räume bestimmt das Bild, es gibt Verlierer und Gewinner.“ (Anders, Fischer 2015, 33)
Hier schließt sich der Bogen zum eingangs aufgerufenen Millenium der Städte. Die alte Fortschrittserzählung von ‚Stadtluft macht frei’ taugt nicht mehr. Sie basierte auf dem politischen und kulturellen Gegenbild zum Land, zum „Idiotismus des Landlebens“. Aber die Gradiente zwischen Stadt und Land wird immer flacher. Angesichts des Klimawandels tritt nun das in unserer Profession über mehrere Jahrzehnte weichgespülte Konzept der Nachhaltigkeit mit voller Wucht wieder auf die Tagesordnung. Es müssen die störrischen Begriffe wie Suffizienz, Resilienz und Subsistenz in die räumliche Planung eingetragen werden. Ein neues StadtLand-Verständnis muss den Umweltenergiequellen, der gefährdeten biologischen Vielfalt, den CO2-Senken und nachwachsenden Rohstoffen sowie den grünen Infrastrukturen einen komplett anderen Stellenwert zugestehen. Veränderte Wertorientierungen im Alltag, Digitalisierung und Logistik, Wachstumsdruck sowie Flächenknappheit erfordern eine professionelle urbane Praxis, die belastbare Arrangements mit den Nachbarn einschließt (und wir alle wissen, wie weit weg unser Planungssystem davon ist). Das Land und die Landschaft, der Freiraum, die Flächen und Böden werden darin ihren Platz einnehmen. Denn man kann – siehe das Eingangszitat von Rem Koohlhaas – die Stadt nicht länger verstehen, ohne das Land zu verstehen.
Literaturangaben
Anders, Kenneth, Fischer, Lars (2015): Auf der Suche nach einer neuen Sesshaftigkeit – Texte über Landschaftskommunikation, Oderaue
Anders, Kenneth, Fischer, Lars (2017): Einige Thesen über die Landwirtschaft von heute, in: ARCH+, Aachen, S. 90-91
ARCH+, Zeitschrift für Architektur und Städtebau (2017): StadtLand. Der neue Rurbanismus, Aachen
Corboz, André (1992): Die „Großstadt“ Schweiz oder Zur Notwendigkeit und von den Abhängigkeiten einer Stadtplanung, in: Hans G Helms (Hg): Die Stadt als Gabentisch, Leipzig, S. 153-171
Faber, Kerstin, Oswalt, Philipp (2013): Raumpioniere in ländlichen Regionen – Neue Wege der Daseinsvorsorge, Dessau, Leipzig
Frank, Susanne (2014): Mittelschichtfamilien als Adressaten und Motoren der Stadt- und Quartiersentwicklung, in: Informationen zur Raumentwicklung, Dortmund, S. 361-370
Franz, Christian, Fratzscher, Marcel, Kritikos, Alexander S. (2018): AfD in dünn besiedelten Räumen mit Überalterungsproblemen stärker, in: DIW Wochenbericht 8/2018
IBA Thüringen (2014): IBA Kompass, Weimar
Koolhaas, Rem (2014): „Koolhaas in the country", in: Icon, Online: http://www.iconeye.com/ (02.03.2017)
Latour, Bruno (2017): Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin
Naef, Adrian (2011): Die Städter, Frankfurt am Main
Schönfelder, Maya Kristin (2018): Zukunftslabor Kannawurf. In welcher Landschaft wollen wir leben?, in: IBA Magazin 05/2018, Weimar, S. 48-53
Thüringer Tricks: Strategien gegen Fachkräftemangel, Spiegelonline, www.spiegel.de
(28.02.2018)
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2016): Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte (Kurzfassung), Berlin
Wüstenrot Stiftung (Hg.) (2015): Unterwegs in deutschen Bildungslandschaften, Ludwigsburg